Verqesê Almanki / Vorwort
Sprachen und Kulturen, die über Generationen hinweg der mündlichen Tradierung behaftet sind, verfügen über ein umfangreiches sowie reichhaltiges Märchen-Repertoire. In Zeiten, in denen Fernsehen, Radio und die technologische Ausrüstung der heutigen Welt nicht verfügbar waren, waren die Übertragungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsarten der Menschen direkt, persönlich, über kurze Wege und vor allem mündlich. Als Genosse dieser Zeit war mein Großvater jemand, der in den Winterabenden, in denen die Arbeit weniger war und mehr Zeit in den Häusern verbracht wurde, Geschichten erzählt hat. Mein Großvater, den sie „Zeynel Ağa (Dt. Bruder)“ oder „Zeynel Usta (Dt. Meister)“ riefen, kam als Maurer viel herum und sah so einiges; er kam mit verschiedenen Menschen in Berührung, sammelte viel Erfahrung und Wissen, wodurch er sein Gedächtnis reichlich mit Geschichten und Märchen bereichern und entfalten konnte. Zeynel Usta starb 1982 im Dorf Altınova (urspr. Armenisch: Palanga) im Bezirk Tercan (urspr. Armenisch: Mama Hatun). Mein Vater, Mehmet Arslan, als zweiter Sohn des Hauses, erzählt seinen eigenen Kindern von Zeit zu Zeit die Geschichten und Märchen, die er von seinem Vater gelernt und gehört hat, weiter und heute machen wir diese Schätze Schritt für Schritt für euch zugänglich. Es ist die Ost-Dersim Mundart des Nord-Dersim-Zaza Dialekts „Kırmancki“, die mein Vater verwendet. Obwohl wir uns dessen bewusst sind, dass es viele Studien über Zazaki gibt, ist es eine Sprache, die noch keine einschlägige Standard-Schriftsprache entwickelt hat und im Allgemeinen mündlich in regionalen Variationen ausgeführt wird. Wir setzen damit die Idee der Menschen, die sich in den 1990er Jahren mit der Zaza-Sprache befass(t)en, fort und ermutigten unseren Vater, das Märchen so niederzuschreiben, wie er die Sprache spricht, denkt, fühlt und so viel er kann, also möglichst in ihrer originalen Ausführung. So haben wir die Ehre, dazu beizutragen, die Sprache am Leben zu erhalten und die Märchen- und Geschichtenwelt der „Kırmanc“, deren Bezeichnung eine auf ihrem Glauben basierte Selbstdefinition der Gruppe ist, den neuen Generationen zu übermitteln und überhaupt der interessierten Weltöffentlichkeit bekannt zu machen.
Diese Sprache, die auf internationaler Ebene seit dem ersten Kontakt von Forscher*innen mit den südlichen Sprecher*innen der sunnitisch-islamischen Rechtsschule zu Beginn des 20. Jahrhunderts extern zugeschrieben „Zazaki“ genannt wird, unterliegt keiner Schreibkultur, insbesondere unter den Sprecher*innen des Kızılbaş-Alevitischen-Glaubens. Die erste bekannte schriftliche Übertragung von Zazaki geht auf Mela Ehmedê Xasî zurück. Diese Quelle, die sich mit dem „Mewludê Nebî”, d.h. der „Geburt des Propheten“, befasst, stammt aus dem Jahr 1899. Die Zaza-Sprache wurde aus verschiedenen Gründen und Faktoren vergessen und ist nach heutiger Forschung gegenwärtig in Gefahr. Ein Teil derjenigen, die mit der Sprache befasst sind, gibt an, dass Zazaki als Überbezeichnung in drei verschiedene Dialekte unterteilt ist. Nach dieser Auffassung wird die Zugehörigkeit zum Glauben als Grund für die Divergenz der Dialekte deutlich gemacht. In diesem Sinne ist der „Kırmancki-Dialekt“ die Selbstdefinition derjenigen, die dem Kızılbaş-Alevitischen-Glauben angehören, während „Zazaki“ eher als Selbstdefinition derjenigen erscheint, die dem Sunnitisch-Shafitischen Ritus der islamischen Religion angehören und die Bezeichnung „Dımılkî“ scheint hier eher unter den Angehörigen des Sunnitisch-Hanefitischen Ritus ihren Platz zu finden. Letztendlich ist dieser Bereich weiterhin Gegenstand intensiver Kontroversen und beinhaltet einige graue und hybride Zonen. Die Diskussionen in diesem Bereich politisieren sich sehr rasch und in entsprechender Weise werden äußerst kantige Haltungen eingenommen, die die wissenschaftliche Auseinandersetzung beschränken. Konkret kann ich aufgrund meiner eigenen Beobachtungen sagen, dass sich Zaza-Programme, die nur sehr kurze Zeit bis Dezember 2016 in der Türkei ausgestrahlt wurden, als auslösender und ermutigender Faktor erwiesen haben, die Sprache wieder zu sprechen und zu leben. Es wurden in den Familienzusammenkünften die Gespräche intensiv in Zazaki geführt, während daneben laufend Fernsehprogramme in Zazaki ausgestrahlt wurden. Meiner Meinung nach verstärkte diese Zeit unter den Zaza-Sprecher*innen unbewusst eine Art selbsterzeugte Re-vitalisierung der Sprache und die gegenseitige Wiedererkennung der Dialektgruppen und der internen Gruppenvielfalt. Ich habe festgestellt, dass sich die Sprecher*innen mit dem Verbot von Zaza-Sendungen und Fernsehkanälen wieder dem Türkischen zugewandt haben. Hier erinnere ich mich an die Beobachtungen einiger Linguist*innen, wie sie sagen, dass der Diskurs, die technischen und bürokratischen Werkzeuge erforderlich sind, damit eine Sprache gelebt, am Leben erhalten und verwendet werden kann, andernfalls das Verschwinden auf lange Sicht oft unvermeidlich ist. Migration, zuerst in die großen Städte und dann in die europäische Diaspora, sorgte außerdem für eine Distanzierung von der Welt der Sprache und Überzeugungen, die ursprünglich durch die Wechselwirkung der Sprache mit der Kızılbaş-Alevitischen Auffassung und Wahrnehmung im Einklang mit der Natur gefördert und reflektiert worden waren. Kulturen und Sprachen sind hybrid, veränderlich und dynamisch. Außerdem priorisieren Lebensbedingungen verschiedene Sprachen. Insofern ist es üblich, dass Rand- und Minderheitenstrukturen auf lange Sicht zugunsten dominanter und dominierender Gruppen an Boden verlieren und erodieren. Wir überredeten meinen Vater, der uns diese Märchen und Geschichten zu jener Zeit, als das Bewusstsein über die Sprache allgemein noch nicht ausgeprägt war, in Türkisch erzählte, diese endlich in seiner eigenen Sprache niederzuschreiben.
Das vorliegende Märchen hat andere Eigenschaften als viele andere bekannte Märchen. In diesem Märchen gibt es keine klassischen männlichen Protagonisten. Der sogenannte Held unseres Märchens ist ein Mädchen. Dieses Detail ist ebenso wichtig wie interessant, wenn man bedenkt, dass mein Großvater die Geschichte in den 1950er und 1960er Jahren seinen und den Kindern des Dorfes im Palanga erzählt hat. Insbesondere in der global-westlich zentrierten Akademiewelt wurden in der Geschlechterforschung verschiedene Studien und Methoden in verschiedenen Disziplinen entwickelt, in denen festgestellt wurde, dass bestimmte Kodierungen durch Märchen verwirklicht werden, die das Denken und die Wahrnehmung der Kinder zur Gesellschaft und Welt prägen. Eine der Arbeitsmethoden ist es, Märchen umzuschreiben. Durch das Brechen des klassischen, westlich orientierten bürgerlich-patriarchalischen Kernfamilienbildes des 19. Jahrhunderts erhalten Minderheiten und andere Randgruppen, Frauen und Mädchen auch aktive und gestaltende Rollen. So wird einerseits mit den männlichen Figuren, denen lediglich aufgrund ihres Geschlechts bestimmte Attribute zugeordnet sind und die heroisiert werden, und andererseits mit den weiblichen Figuren und entsprechenden Bildern, die über feudal und sexistisch geprägte Pflichten und Rollen (z.B. die der hingebungsvollen Mutter, der gütigen Großmutter, der jungfräulichen Schwester usw.) definiert werden, gebrochen. Diese Märchen zeichnen Welten einer egalitäreren Ordnung und sozialen Struktur und versuchen, aufklärerische und bewusstseinsfördernde Strukturen und Denkweisen in der Wahrnehmung der Kinder aufzubauen. Mit anderen Worten, die Geschichte und die Gesellschaft, die androzentristisch geordnet ist, wird auf den Kopf gestellt und neu geschrieben.
In unserem Märchen sind die Menschen in der Region mit der Natur verflochten und die interaktive Bindung der Welt des Glaubens an die Natur tritt auch in den Rollen der Tiere in den Vordergrund. Liebe und Respekt für Natur und Umwelt werden in diesem Märchen sehr originell, aufrichtig u.v.a. detailliert beschrieben. Ein weiteres wichtiges Merkmal dieses Märchens ist der Teil, der die Leser*innen am Ende überrascht. Um die Neugier der geschätzten Leser*innen wach zu erhalten, werde ich hier nicht Näheres ausführen. Es ist jedoch interessant, dass bereits Mitte des 20. Jahrhunderts in einem Kızılbaş-Alevitischen Zaza Dorf ein Thema diskutiert wurde, das noch im 21. Jahrhundert zu intensiven Kontroversen führt.
Auch hier möchte ich meinem Vater Mehmet Arslan zu seinem ersten Schritt und Mut gratulieren. Umso spannender ist es zu wissen, dass weitere Projekte und Initiativen diesem ersten gemeinsamen Schritt folgen werden. Dann möchte ich im eigenen und im Namen meines Vaters all unseren werten Freund*innen abermals unendlich für ihren Beitrag und ihr Engagement danken. Die Illustrationen der lieben Semra Bulut stellen eine wichtige Bereicherung dar. Um den Zeitgeist widerzuspiegeln, wurden in den Zeichnungen Farben und Methoden angewandt, die von der Miniaturtechnik inspiriert sind. Die Illustrationen geben den Inhalt des Märchens dermaßen wieder, dass es auch ohne den Text lediglich anhand der Zeichnungen gelesen werden kann. Herzlichen Dank und Respekt für die Geduld und diese Performance. Auch Mirzali Zazaoğlu und Hawar Tornêcengi gilt jeweils ein aufrichtiges Dankeschön für ihre großartigen Beiträge und ihren jeweiligen Aufwand. Auch ihnen danke ich sehr für ihre unendliche Geduld und ihr Wissen. Die Redaktion der Zaza-Sprache wurde gemäß der Sprachvariation in der hiesigen Region durchgeführt. In der Übersetzung wurde der Sprachwelt und dem Denken in der Region möglichst treu geblieben und diese passend, schlicht und weitestgehend eins zu eins gemacht. Damit soll der Öffnung eines Fensters in eine noch fremde Welt gedient sein.
Wir danken allen jenen Personen, die uns darin ermutigten, diese Lektüre mit den Leser*innen und dem relevanten Publikum zusammenzubringen sowie jenen Menschen, die uns in irgendeiner Weise unterstützten; allen voran meiner lieben Mutter, Elif Arslan, außerdem den geschätzten Freunden, Hüseyin Tunç und Aytekin Bulut. Ihnen allen gilt Respekt und Dank.
Schließlich ist Dieter Halwachs und dem Team von treffpunkt sprachen – Zentrum für Sprache, Plurilingualismus und Fachdidaktik an der Karl-Franzens-Universität Graz zu danken, dafür, dass sie mit Vertrauen und Zuversicht unsere Arbeit begleitet, unterstützt und gestärkt haben.
Herausgeberin, Zeynep Arslan
21.02.2022