Konferenz an der Universität Wien – Die Anerkennung der Aleviten
Die Hauptaussage meines Beitrages war, dass es in der historisch-geographischen Region, im Vorderen Asien bis zum Balkan es Glaubensgruppen gibt, die unter dem Begriff der Alevit*innentümer zusammengefasst werden können. Im sozioökonomsichen und soziopolitischen Vergleich und in ihrem jeweiligen Verhältnis zu den orthodoxen Formen des Islam, die zum Teil die Staatsführungen sowie politischen wie kulturellen Diskurse vor Ort prägen, verfügen sie, die “alevitischen” Gruppen über bezeichnende Schnittmengen und Überschneidungen. Die Glaubensgeschichte und Situierung der Anhänger*innen dieser Alevit*innentümer – von der Vergangenheit bis in die Gegenwart – kann nicht ohne die Konkurrenz- aber auch Dependenzbewegungen sowie -verhältnisse gegenüber den Formen orthodox-islamischer Dominanz in der Region begriffen werden.
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Alevit*innentümern fordert v.a. einen interdisziplinären Zugang, der den kritisch-reflektierten Blick von unten hinauf beinhaltet. Die Institutionelle Verortung des Lehrstuhls unter dem Titel “Alevitische Theologie” innerhalb des Instituts der Islamwissenschaften beherberg in vielerlei Hinsichten das Risiko der Reproduktion sowie Stärkung der transnational wirkenden Dominanzverhältnisse, wodurch eine emanzipierte wissenschaftliche und intersubjektive Auseinandersetzung strukturell beeinträchtigt werden kann. In unterschiedlichen Schriften arbeitete ich heraus, dass es besonders spannend ist, dass es die gesetzlichen Strukturen in Österreich geworden sind, die es letztendlich besonders begünstigt haben, dass die Emanziptionsbewegung der z.B. türkeistämmigen Alevit*innen gegen die andauernden Assimilationsmechanismen Herkunftsland und Wiege der Alevit*innentümer dominierenden orthodoxen Auslegung des Islam (hier sunnitische Rechtsschule) einen bezeichnenden Bruch erlitten haben. Während das Alevit*innentum in Österreich im Jahre 2013 offiziell mit der Bezeichnung “Islamisch-Alevitische-Glaubensgemeinschaft” als anerkannte Religionsgesellschaft gesetzlich institutionalisiert wurde, verursachte dieser Schritt die Spaltung der Anhänger*innen in Österreich und von hier ausgehend auch in der europäischen Diaspora. Während die eine große Gruppe jene Anhänger*innen umfasst, die sich nicht unter dem Label des (orthodoxen) Islam bzw. teilweise auch innerhalb des Funktionssystems “Religion” kategorisiert sehen möchten, lehnt die andere größere Gruppe die (ethnisch sowie sprachlich) Türkisch-zentriertheit ab, um auf die Sichtbarkeit und Existenz nicht-türkischer, in dem Fall die zazaki und kurdisch-ethnischer Auslegungen der Alevit*innentümer, hinzuweisen.
Damit leite ich auf die Kurzfassung meines Vortrages über, der folgende These beinhaltet:
Titel: Zur De-konstruktion gegenwärtiger Identitätsdiskurse.
Über die Dynamiken von Identitätsbildenden Prozessen zur Legitimierung von marginalisierten Gruppen vor dem Hintergrund von Männlichkeit, Macht und europäischer Ideengeschichte am Beispiel der Dersimischen Kızılbaş Alevit*innen.
Ausgangslage und These
Die Geschichte der identitätsstiftenden Nation, des “citoyens” als freien, selbstbestimmten Menschen ist bis heute das Fundament der Diskurse über Gesellschaft, politische Systeme und Transformation. Diese ureuropäische Geschichte dient ebenso als Legitimierung von Gruppenbildungen und Zuordnungen, sei es als Ideen- oder Glaubensgemeinschaft, sei es als Ethnie oder Milieu. All diese Diskurse und Kategorien entstanden jedoch aus einem männlichen und machtdominierenden Narrativ heraus und gleichen Paradigmen, ja sogar Dogmen, deren De-Konstruktion oder zumindest der Versuch daran scheitern, dass es jene versucht haben, die nicht Teil der Geschichtsschreibung waren, nämlich Frauen* und Minderheiten, Unterdrückte und Verfolgte. So meine These.
Am Beispiel der Dersimischen Kızılbaş Alevit*innen möchte ich aufzeigen, wie sich eine marginalisierte Gruppe quasi als eine Überlebensstrategie über die Zuordnung zu einer Ethnie und zu einer Glaubensgemeinschaft politisiert hat und wie über die Diaspora und den Generationenwandel die Transformation innerhalb der Gruppen und Denkrichtungen stattfindet. Dies aus der Perspektive der Gender Analysis und einer Dersimischen Kızılbaş Alevitin, migriert und in der Diaspora lebend.
Beispielhaft sind hier die männlichen Sprecher alevitischer und zazaischer Einrichtungen, die in den 1980er Jahren in der europäischen Diaspora aus politischen Interessen und Motiven heraus nationalistisch motivierte Identitäts-politische Diskurse schufen. Diese bauten jedoch auf den homogenisierenden Nationalismus des türkischen Staates auf, mit eben dieser marginalisierenden, assimilierenden und homogenisierenden Ideengeschichte. Dann haben die politischen Institutionen und die Wissenschaften in der Diaspora aus eigenem staatspolitisch relevantem Kalkül die männlichen Sprecher der Einrichtungen unterstützt bzw. gelenkt. Als Konsequenz endeten z.B. die Anerkennungsbemühungen der Alevit*innen in Deutschland in der Erklärung der Alevit*innen als eine Religionsgemeinschaft. Heute blockiert und verwirrt diese institutionalisierte Kategorisierung den eigentlichen Werdegang der Alevit*innen in ihren Anerkennungsbemühungen und Gleichberechtigungs-forderungen. Die männlichen Akteure, die dann in den re-produzierten Machtgefügen Positionen bezogen haben, bestehen seither auf die Fortsetzung der bestehenden Strukturen. Damit betreten die alevitischen Sprecher Machtzentren, in denen sie sich im Endeffekt Selbst-marginalisieren und strukturell zu token victims werden. Als Teil dieser Machtgefüge werden sie mittel- bis langfristig dazu instrumentalisiert, die alevitischen Gesellschaften zu subalternisieren.
Die Dersimischen Kızılbaş Alevit*innen sind eine intersektional gezeichnete Gruppe, die dem „türkisch-sunnitisch-muslimisch“ definierten Staatsparadigma in der Türkei vollkommen abweichen, daher mehrfach diskriminiert sind und über die „emotional heritage“[1] persönlichkeitsprägend die Geschichte der Verfolgung, Ermordung, Vertreibung, Genozid und Diaspora an die Nachkommen übermitteln.
Die Alevit*innen[2] – als die große Übergruppe – sind – so meine weitere Argumentation für die These – Angehörige einer „politisierten und „ethnisierten Glaubensgemeinschaft“[3]. Daher auch nicht ausschließlich der Disziplin der Religionswissenschaften zuzuordnen (die im Übrigen besonders männlich dominiert sind). Meinen Untersuchungen zufolge handelt es sich vor allem um eine Gruppe, die sich aus sozioökonomischen sowie soziopolitischen Gründen gegenüber autoritären Staatsformen, bildete, klassisch weibliche bzw. vulnerable Beweggründe.
Forschungshintergrund
In der europäischen Diaspora und mit der Etablierung alevitischer Einrichtungen im europäischen Raum erkannten Alevit*innen, dass sie in den eigenen Reihen durch eine große Heterogenität gekennzeichnet sind. Sie erkannten, dass Alevit*innen im Westen der Türkei in linguistischen, ethnischen sowie politischen, traditionellen und kulturellen Einstellungen sich von den Alevit*innen im Osten des Landes (Ost-Alevit*innen/Kızılbaş Alevit*innen) markant unterschieden. Fragen über Identitäts-zuschreibungen und Selbstdefinitionen entstanden.
Über die Jahrzehnte verstärkten sich Diskrepanzen, Diskontinuitäten und Diversität innerhalb der alevitischen Gesellschaften, auch bedingt durch externe Einflüsse, Umstände und Resonanzen. Die geo-strategischen und transnationalen Faktoren, die hier mitschwingen sind ebenso Themenbereiche, die sich durch meine wissenschaftlichen Auseinandersetzungen durchziehen.
Z.B. weisen die Dersimischen Kızılbaş Alevit*innen eine besondere Diskussion auf. Die historische Region Dersim ist eine Übergangszone zwischen den Türkisch-dominierten und den Kurdisch-dominierten soziopolitischen und geographischen Flächen. Die Frage der ethnischen und linguistischen Zugehörigkeit – stets mit dem Fokus auf Nationalität – ist ein umkämpftes Terrain. Es dominieren die männlichen Narrative des Nationalstaatswerdungsdiskurses, in der stets mit der Formel: „eine Sprache eine Nation“ argumentiert wird. Die Dersimischen Kızılbaş Alevit*innen sprechen zu einem wichtigen Teil die indogermanische Sprache Zazaki[4], die im UNESCO Weltatlas der Sprachen im Jahre 2009 als eine „bedrohte Sprache“ gelistet wurde. Während im Zusammenhang mit der Frage der Nationalität und nationalen Zuordnung eine äußerst politisch motivierte Diskussion zur Kategorisierung des Zazaki als ein Dialekt des Kurdischen oder eine unabhängige Sprache weiter aufrecht ist, priorisiert ein wichtiger Teil der Dersimer*innen ihre Kızılbaş Alevitische Glaubenszugehörigkeit und verwendet dabei diverse Selbstbezeichnungen wie „Kırmanc” und „Şarê Ma”. Auch hier dominieren die Erkundungen westlicher-weißer-bürgerlicher Wissenschaftler zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Längst wurde dabei übersehen, dass z.B. das Zazaki und das Dersimische Kızılbaş Alevit*innentum eine wechselseitige existenzielle Motorfunktion haben, in der der Verlust der Sprache die Erosion der Glaubenswelt bedeutet und umgekehrt.
Es bedarf eines intersektionalen und interdisziplinären Ansatzes, welcher marginalisierte Gruppen wie z.B. die Dersimischen Kızılbaş Alevit*innen von mehreren verschiedenen interdependenten Ebenen aus erfasst. Zumal diese mit den dominanten Paradigmen und einem weltsystemischen Diskurs männlich-patriarchaler Narrative nicht erfasst und erklärt werden können. Das ist mitunter der Grund, warum z.B. die alevitischen Institutionen in ihren Anerkennungsbemühungen in den jeweiligen Staaten an der Situation des „Eingezwängtwerdens“ in bestehende Kategorien scheitern bzw. diametralen Entwicklungen begegnen. Ein einschlägiges Beispiel dafür liefert z.B. die Anerkennungsbemühung der Alevit*innen in Österreich vor dem Islamgesetz. Parallelen lassen sich bei anderen Gruppen finden, wie z.B. Sikhs, die ebenso um ihre staatsrechtliche Anerkennung in Österreich bemüht sind. Ähnliche Diskussionen lassen sich außerdem in z.B. Indien, Spanien und auch im Nahen Osten, im sogenannten Krisenherd der Identitätszuschreibungen überhaupt auffinden, nicht zuletzt die Minderheitengruppen in den europäischen Staaten, wie z.B. Roma und Sinti.
Assimilationspolitiken an marginalisierten Gruppen, die sich über Jahrhunderte ziehen, führen zu Entfremdungsprozessen und einer politischen Orientierungslosigkeit. Insofern möchte ich von der Notwendigkeit einer De-konstruktion in Richtung einer, das androzentrisch dominierte und postkolonial gezeichnete Weltbild kritisch beleuchtenden und reflektierenden Re-konstruktion sprechen. In diesem Prozess kann jene Demokratie, die marginalisierte zivilgesellschaftliche Organisationen fordert, zunächst nur „in den eigenen Reihen“ entwickelt werden, da sie in ihrer Selbstsuche und Orientierungslosigkeit zu einem großen Teil jene Muster zu re-produzieren scheinen, die ihre sozusagen Unterdrücker*innen in der Repräsentanz des dominanten und teils unterdrückerischen Staatsparadigmas anwenden/-ten. Die Bewusstseinsbildung bezüglich der Notwendigkeit einer inneren Demokratisierung und Reflexion ist gleichzeitig eine zentrale Voraussetzung für das eigene Überleben und für die Mitwirkung in Demokratiestabilisierungsprozessen in den Gesellschaften, in denen sie leben, zumal ein gleichberechtigtes Zusammenleben nur in gemeinsamen Lebensräumen möglich sein wird, in denen ein wertschätzender Umgang mit der Diversität gewährleistet wird.
Stand der Forschung
Am Fallbeispiel der Alevit*innentümer gibt es einen reduzierten Forschungsstand mit nur wenigen schriftlichen Quellen. Die Quellen, mit denen heute gearbeitet wird, sind vor allem seit der Republikgründung der Türkei (ca. 1880 bis 1940) vorhanden und von der ethnisch-türkischen Vereinnahmung einerseits und seit den 1990er Jahren von der ethnisch-kurdischen Vereinnahmung andererseits geprägt. Es sind männliche Sprecher, deren Inhalte überliefert sind und ihre Begriffe sowie Auffassungen von der Welt, die bis heute die alevitischen Gesellschaften prägen. Der aktuelle Forschungsstand ist politisch motiviert und die wenigen schriftlichen Quellen dieser oralen Tradition nur spärlich wissenschaftlich (hauptsächlich politisch-interessensgeladene Literaturanalyse) dokumentiert. Insgesamt dienen die durch das Interpretationsmonopol der Männerbünde gelenkten Inhalte politischen Zwecken, die marginalisierten ethno-nationalistischen Merkmalen haftend, demokratiepolitische Bemühungen auf gesamtgesellschaftlicher Instanz außen vorlassen.
Die Auseinandersetzung mit marginalisierten Gruppen am konkreten Beispiel der Dersim Kızılbaş Alevit*innen bedingt die nähere Betrachtung der soziopolitischen und historischen Entwicklungen auf der transnationalen Ebene. In den Staaten Europas und insbesondere in Österreich müssen sich Alevit*innen vor einem Islamgesetz behaupten, gegen dessen Parallelitäten sie Zeit ihrer Existenz im Herkunftsland Widerstand leisteten, und in Österreich jedoch zum ersten Mal in ihrer Geschichte die Benennung und Zuordnung „Islamisch-Alevitisch“ oktroyiert bekommen haben.[5] Ersichtlich ist, dass der „österreichische Islamisierungsdiskurs“ nicht ganz zufällig mit jenem in der Türkei zusammenfällt. Je mehr sich Alevit*innen – insbesondere die mehrfachen Diskriminierungen ausgesetzten Dersimischen Kızılbaş Alevit*innen – von ihren indigenen Ursprungsformen in ihren Dörfern entfernt haben und je mehr sie sich den staatlichen Kontrollmechanismen beugen mussten/müssen, desto mehr scheinen sie in die vordefinierten Kategorien, z.B. Islam hinein zu driften und sich anzupassen und beflügeln somit Selbstentfremdungsprozesse. Zusammenfassend lässt sich meine Forschungsfrage wie folgt formulieren:
Warum braucht es die De-konstruktion gegenwärtiger Identitätsdiskurse zur Legitimierung marginalisierter Gruppen vor dem Hintergrund von Männlichkeit, Macht und europäischer Ideengeschichte?
und davon meine Hypothese wie folgt ableiten:
Wenn sich marginalisierte Gruppen in ihren Identitätsbildungsprozessen innerhalb der europäisch-männlich dominierenden Diskurse bewegen, reproduzieren sie bestehende Machtverhältnisse, wodurch wesentliche Identitätsstiftende Elemente exkludiert werden, die so in einem Selbstentfremdungsprozess, Ungleichheit und politischer Orientierungslosigkeit münden.
Vorgehensweise und Methoden
Dersim kann ein Modell darstellen, um zu erforschen, wie ethnische, linguistische, glaubensinhaltliche Diversität im Zusammenhang mit historischen und politischen Umrandungen und Entwicklungsprozessen aufgefasst werden können, um neue Möglichkeiten des Teilens von gemeinsamen Lebensräumen festzustellen. Es kann außerdem ein Fallbeispiel dafür sein, um das männliche Interpretationsmonopol mittels einer gendersensiblen Re-konstruktion der politischen, historischen und sozioökonomischen Zusammenhänge zu brechen.
Eine kritisch-inhaltlich-analytische Literaturrecherche mit einem dekonstruktivistischen Ansatz ist notwendig, zumal die Forschungsfrage beinhaltet, bestehende Kategorien zu hinterfragen und Alternativen zu entwickeln. Archivarbeit in der Türkei, Deutschland, Österreich und Iran, soll die Belege dafür finden, wie die externen und internen Zuschreibungen im historischen Wandel entstanden sind. Die narrativ-biographischen Expert*inneninterviews dienen der oralen Transmittierung komparativ im zeit-historischen Kontext auf die Spuren zu gehen.
Der Innovationsgrad der Untersuchung liegt darin, dass am konkreten Fallbeispiel einer marginalisierten Gruppe, die Frage der Zugehörigkeit von der lokalen und stets Vergangenheit-gerichteten Ebene in eine globale Zukunft-gerichtete Makroebene gehoben wird, um von dort aus einen demokratiepolitisch relevanten Vorschlag für die Frage der kulturellen Co- und Inter-Existenzen in neuen gemeinsamen Lebensräumen zu entwickeln. Es ist ein Vorhaben mit dem Ziel einer egalitären Diskurs- und Räume-Schaffung zum Zwecke eines Beitrages für einen dringend notwendigen Paradigmenwechsel und gendersensiblen Blick auf die politische Ideengeschichte der Alevit*innentümer.
[1] Begriff nach Angela Moré 2007.
[2] Es gibt lediglich Schätzungen über die Bevölkerungszahl dieser Glaubensanhänger*innen (Yaman 2007: 57). Die Schätzungen variieren zwischen 15 und 20 Prozent (Yaman 2007, Dressler 2008, Shankland 2007, Sökefeld 2008).“
[3] Zum Begriff siehe Arslan 2018.
[4] Je nach Region und Glaubenszugehörigkeit unterscheiden sich die Selbstbezeichnungen: „Zonê Ma”, “Dımlī”, “Sobê”, “Kirmānčkī”. “Zazaki” ist jene Bezeichnung, die im Weltatlas für bedrohte Sprachen verwendet wird.
[5] Arslan 2016 und 2018.