DON’T LOOK UP – Nuray Sancar über den Netflix-Film „Don’t Look Up“: Die kreative Besetzung des Films rekonstruiert den Zeitgeist, indem sie sich mit der Gleichgültigkeit dieser Zeit herumschlägt
Der türkische Innenminister, der zuvor verkündete, dass nur noch 150 „Terroristen“ übrig geblieben seien, erklärte mit seinem Tweet in der letzten Woche des Jahres, dass 455 dieser „Terroristen“ in der Stadtgemeinde Istanbul (İBB) arbeiten würden, und leitete damit eine Untersuchung ein[1] – während dieses angespannten politischen Umfelds trat in der Zwischenzeit ein Film in den Vordergrund.
Neben den Verhandlungen der HDP[2] mit den Parteien der „Millet İttifakı“[3], dem Jahrestag des Roboski-Massakers[4], dem Beginn des Mordprozesses Deniz Poyraz[5] und dem Anschlag auf das Parteigebäude der HDP Bahçelievler (District in İstanbul) wurde auch über diesen Film viel gesprochen. Der Film mit dem Titel „Don‘t Look Up“ bei Netflix zeichnet sich nicht nur durch eine Starparade aus, sondern fällt durch seine Fähigkeit, den schlüpfrigen Boden zu erklären auf, auf dem sich nicht nur die US-, sondern auch die türkische Politik bewegt.
Es ist offensichtlich, dass sich der Machtdiskurs, der sich am Beispiel des Esenler (District in İstanbul)-Vorstehers Tevfik Göksu niederschlägt – der versucht Beweise in den Gängen des İBB für das Gerücht über diesen Terrorismusvorwurf zu finden – aus Praktiken auf der ganzen Welt speist. Bei den letzten Kommunalwahlen hatten wir die Konsequenzen gesehen, wenn man*frau diese Korridorgerüchte ernst nimmt. Die Polizei ging von Tür zu Tür auf Wähler*innenjagd.[6] Es war nicht klar, wonach die Polizei suchte, aber damals wurde von Wähler*innen erwartet, dass sie an die unvergesslichen Worte eines AKP-Mitglieds, Ali İhsan Yavuz, glaubten, der sagte: „Auch wenn nichts passiert ist, ist etwas passiert“. Dieses „Etwas“ war eigentlich eine Vernebelung von Dingen, die tatsächlich passiert sind.
Deshalb, weil „Don’t Look Up“ dieses Thema behandelt, kommt er uns sehr bekannt vor. Der Anfang der Geschichte beginnt noch bevor einer von Trumps Berater*innen sagte: „Es gibt keine Tatsachen“ oder noch bevor jemand, der offensichtlich lügt, zum Präsidenten gekürt wurde, dennoch wird sie am meisten mit der Zeit von Trump in Verbindung gebracht. Manche nennen diese Zeit die Post-Truth-Ära[7]. Die kreative Besetzung des Films rekonstruiert den Zeitgeist, indem sie sich mit der Gleichgültigkeit dieser Zeit herumschlägt.
Der Film erzählt die Ereignisse, die passieren, nachdem zwei Wissenschaftler (gespielt von Leonardo DiCaprio und Jennifer Lawrence) feststellen, dass sich ein großer Komet der Welt nähert, der die Erde zerstören wird, wenn er nicht aufgehalten wird. Beim Versuch, viele Institutionen – vom US-Präsidenten (gespielt von Meryl Streep) bis hin zu den Medien – von der Ungeheuerlichkeit der Gefahr zu überzeugen, fällt es dem Duo – wie wir uns gut vorstellen können – schwer, ihre Sorgen zu erklären und sie verfallen dabei in ein schwarzes Loch der Hoffnungslosigkeit. Viel bemerkenswerter ist aber, dass sie in einer Umgebung arbeiten, in der niemand allzu lange die Neugier aufbringen kann, etwas in Erfahrung bringen zu wollen, da in den Korridoren der Wahrnehmungsindustrie, die Realität immer mehrdeutiger und die Bedrohung des Lebens längst zum Spektakel geworden ist.
DIE KARIKATURISIERUNG DER HELDEN
Es ist nicht verwunderlich, dass die gegenwärtige Generation, die die Helden wie Rambo oder Terminator; die Horrorfilmakteure Jaws oder Chucky in Pistaziengrün anfärben und sich amüsieren würde, jetzt in der Stimmung ist, diesem Kometen lustige Maschen anzubinden. Seit dem Meteoriteneinschlag in Lars von Triers nicht ganz so alten „Melancholia“ hat sich viel verändert. Die Konzentration, die sich höchstens 280-Zeichen-Tweets lang auf ein Thema konzentrieren kann und die Aufmerksamkeit rasant zwischen unzusammenhängenden Themen springt, ist nicht mehr in der Lage, sich auf eine einzige Emotion zu konzentrieren, die von diesen alten Filmen ausgeht. In einem Masseninformationsfluss, wo in sozialen Medien eine Information impulsartig vom nächsten gleich wieder abgelöst wird, wurde die emotionale Betroffenheit in Horrorfilmen von der Gleichgültigkeit abgelöst, in der keine Information mehr wichtiger als die andere ist.
Es ist kein Platz für Ernsthaftigkeit, wo Wissenschaft und Aberglaube, Gerüchte und Wissen, Recht und Gerücht nicht mehr voneinander zu trennen sind.
Die Welt der Medien lässt den beiden Wissenschaftler*innen keine andere Wahl als auf die Frage: „Gibt es einen Kometen oder nicht?“ mit „Ja“ oder „Nein“ zu antworten, indem sie fokussiert ist die beiden Menschen – die bemüht sind die Öffentlichkeit vor der drohenden Gefahr für die Welt zu warnen – lediglich zu Popstars zu machen. Ihre Worte haben somit keinerlei Bedeutung, wenn sie nicht Teil dieses Pop-Pantheons sein können.
Denn der Zeitgeist lebt mit seinen eigenen Fetischen. Es gibt keine Empfänger*innen einer Aussage, die diese Fetische nicht berührt, deren Bedeutung durch diesen Kontakt nicht rekonstruiert wird. Der Prozess, der diese beiden Wissenschaftler*innen erotisiert und vor die Gesellschaft stellt, die rufen: „Morgen werden wir alle sterben!“, macht aus den aggressiven Bildern des hiesigen jungen Doktoranden Memes. Sie werden zu lustigen Figuren, deren Fotos auf T-Shirts und Tassen gedruckt und Versionen in ihren Twitter-Posts produziert werden. Erinnern wir uns an Sanders‘ Bild, das zunächst viral und für mehrere andere Kontexte dann adaptiert wurde: während der letzten Wahlen bei einem Treffen im Freien auf einem Stuhl sitzend, in Decken gehüllt, im Schnee. An dieser Stelle halten wir fest, dass der Rede- und Textverfasser von Sander, David Sirota, der Drehbuchautor dieses Filmes ist. Er ist mit diesen Situationen, in dem wir uns befinden, bestens vertraut. Wir hingegen kennen diese Verfahren von der Erdbebenzeit als Prof. Dr. Ahmet Mete Işıkara völlig aus dem Kontext und seiner Profession entrissen) zum sexysten Mann gewählt wurde.
Die Ikonisierung und Pop-kulturalisierung im Film geschieht mit einer Geschwindigkeit, die der Geschwindigkeit des sich der Erde nähernden Himmelskörpers nahekommt, und die Produkte werden viral. Natürlich passiert dieser Vorgang nicht von selbst. Entschlossen, den Kometen durch die Zerschmetterung mit Satelliten ins All loszuwerden, produzieren das Weiße Haus und seine Partner*innen jenen Piloten, soz. „den Helden, den Amerika braucht“; also diesen neuen Rambo, ganz im Geiste der Zeit, als Karikatur alter Helden. Jedoch ist dieser nicht wie der Rambo, der zu den Mythen nach dem Kalten Krieg hinzugefügt wurde. In einer Zeit, in dem jede*r dazu erzogen wird, Held*in zu werden, können diese Held*innen nicht allzu protzig sein; sie werden zu Parodien der Vergangenheit, da ihr Heroismus mit situativem, momentanem und einem „Like“ vertraut ist. So wird die Wahrheit an sich wie eine Parodie erlebt.
ALLES IST EIN SPEKTAKEL
Ein Verfahren, in der Raketenabschüsse von gigantischen Konzertauftritten begleitet werden, Fernsehshows, Performances zum Material für Spektakel werden, sagt eigentlich nur eines aus: Don’t Look Up! Also schau nicht nach der Wahrheit. Dennoch gibt es Dinge, die im Dienste der Öffentlichkeit gemacht werden; jene Interviews, die die Zuschauer*innen fragen, ob sie an Kometen glauben oder nicht; und Umfrageergebnisse, die zeigen, dass das Land geteilt ist und am Ende noch die Massen, die vergessen, warum sie gespalten sind, für die die Gründe für die Spaltung unwichtig geworden ist, und sie sich lediglich damit begnügen „lassen wir uns nicht spalten“ zu sagen… All dies entwickelt sich Schritt für Schritt durch die Produktion neuer Fetische. Inmitten von all diesem Material findet sich eine vermeintliche Meinungsfreiheit, die sich in scheinbarer mehrstimmiger unnötiger Massen- und Lärmbelästigung hervorbringt; der moderne Aberglaube im Gewand der Demokratie, die die Verbreitung echter Informationen tatsächlich behindert. Das ist der neue Fetisch.
Es wäre auch schwierig, den Wert der Ergebnisse in diesem Fetisch-Herstellungsprozess zu messen, wenn die Kapitalist*innen die „Star-Smashing-Operation“ hinauszögern, um währenddessen die im Kometen enthaltenen Edelmetalle einzusammeln und Gewinn zu machen. Denn der Wert des Genusses und der Unterhaltung, der durch das Don’t Look Up gewonnen wird, lässt sich nur Dank ihnen in Geld bemessen. Im Film stürzt diese Profitgier die Welt in eine Katastrophe. Es wird behauptet, dass diejenigen, die die Grenzen der Gleichgültigkeit überschreiten durch Steve Jobs und Elon Musk repräsentiert ist. Diese Darstellung ist ein wichtiger Beitrag zum Realismus des Films.
Apropos Realität; Hollywood hatte vor einiger Zeit einige dystopische Filme über die Reality-Show des wirklichen Lebens produziert. Das unheimliche Gefühl, in einer Umgebung zu leben, in der jeder zusieht, hat sich auf dem Markt gut behauptet. „Don’t Look Up“ hingegen ist kein dystopischer Film, auch wenn er von den Ereignissen unter der Kometenkatastrophe erzählt. Denn auch in Wirklichkeit ist es nicht so. Dank der Machtstrukturen, die die Schwere der zu erwartenden großen Katastrophen in den Korridoren von Medien und Politik Schicht für Schicht schrittweise reduzieren und umgestalten, bleibt nichts mehr zu reden, und das Geschehen bleibt zwischen nichts und etwas. Nichts ist sicher, etwas kann und muss aber nicht passiert sein!
In diesem Umfeld geht es in diesem Film darum zu zeigen, wie der Massengeist, der darauf ausgerichtet ist, den gleichen Blick auf Katastrophen, Gefahren oder alles Gewöhnliche zu richten, durch Wahrnehmungsregulationsmechanismen erzeugt wird. Zu erklären, wie der Blick und die Aufmerksamkeit auf die Trends der Zeit mit bestimmten Werkzeugen trainiert werden. Da sind das Weiße Haus, das Pentagon, die NASA, das Finanzkapital, die Medien, die Kulturindustrie, die politischen Parteien… Alle leisten ihren Beitrag.
Man*frau kann sagen, dass dies ein lustiger Film ist, aber ihn lediglich als solchen zu beschreiben, wäre eine Täuschung. Dies ist ein Film, dessen Stil sich mit seinem Inhalt deckt. Der Bereich des Genusses, in dem demokratische Teilhabe gleichgesetzt wird mit dem „Like“ in sozialen Medien, und der Raum, in der Konsument*innen „liken“ und „geliked“ werden und sich erfreuen, ist auf Kosten der Tatsache, dass sie nicht die Wahrheit sehen, garantiert. So wird das Leben gelebt. Auch nach der Katastrophe und unter Trümmern twittert die Personenfigur des großen Films, die immer noch nicht verstehen kann, was passiert ist. Über eine Situation, über die man*frau nur noch lachen kann, kann man*frau tatsächlich nur noch lachen.
Übersetzung: Zeynep Arslan
30.12.2021
Original: Sancar, N., in Evrensel, 29.12.2021, Don’t Look Up | Sakın yukarı bakma, https://www.evrensel.net/haber/451418/dont-look-up-sakin-yukari-bakma, Zugriff: 30.12.2021
[1] Siehe: Evrensel, 13.12.2021, İBB Meclisi’nde “terör örgütü üyesi çalışan” tartışması, https://www.evrensel.net/haber/450118/ibb-meclisinde-teror-orgutu-uyesi-calisan-tartismasi, Zugriff: 30.12.2021; Hintergrund: Konkurrenz zwischen der AKP-regierten Türkei und den CHP (Republikanische Volkspartei)-regierten Gemeinden und Länder. Dabei spielt die Großstadt-Metropole mit an die 20 Millionen Bewohner*innen ein entscheidendes Schlachtfeld. So mussten gleich zu Beginn aufgrund des Vetos und Anfechtung der AKP-Regierung unter RTErdoğan die letzten Wahlen in Istanbul wiederholt werden. Am Ende wurde Ekrem Imamoğlu (CHP) trotz der erzwungenen Wahlwiederholung mit einer noch größeren Mehrheit der Stimmen am 23. Juni 2019 zum Oberbürgermeister der Großstadtkommune Istanbul gewählt.
[2] Prokurdische Partei; Demokratische Partei der Völker.
[3] Bündnis der Nation – seit 2018 Wahlbündnis der Opposition mit CHP und İYİ Parti (Gute Partei; nationalkonservative bis nationalistische Partei, die sich als Alternative zur islamistischen AKP und ultranationalistischen MHP sieht) als Fortsetzung der Kooperation, die sich bei der Volksabstimmung 2017 gegen das Präsidialsystem formiert hatte.
[4] Am 28.12.2011 verübten die türkischen Luftstreitkräfte in Roboski (Ort in der kurdischen Provinz Şırnak; türkisch-irakische Grenze) Massaker (Uludere-Vorfall) einen Luftanschlag auf kurdische Zivilisten. Dabei wurden 34 Jugendliche ermordet. 24 von den getöteten Jugendlichen gehörten der Familie Encü an.
[5] Deniz Poyraz wurde am 17.06.2021 im HDP Büro in İzmir durch einen türkischen Faschisten ermordet, der eigentlich ein Massaker zu verüben im Visier hatte.
[6] Siehe FN 2; im Auftrag der AKP-Regierung wurde nach Wähler*innen gesucht, die Wahlbetrug begangen haben sollen.
[7] Eine post-truth oder post-faktische Situation ist eine Situation, in der Menschen weniger von sachlichen Informationen beeinflusst werden als von ihren Emotionen oder Überzeugungen, die sie bereits haben. Dabei werden Unwahrheiten, Wahrnehmungen, Annahmen zu Wahrheiten von Gruppen. Unterschieden wird zwischen der Objektivität, der Intersubjektivität und Interessen, die durch Interagieren zu gemeinsam angenommenen Wahrheiten werden.