Beim ersten Sommergespräch fiel die Frage: “Gehört der Islam zu Europa?”
Die Frage „Gehört der Islam zu Europa?“ verliert spätestens an den Tatsachen, dass unter den 700 Millionen EinwohnerInnen in Europa an die 50 Millionen MuslimInnen im europäischen Kontinent leben, längst an Sinnhaftigkeit. Nicht weniger interessant ist die Geschichte des Islam im europäischen Kontinent, die genau zeigt, dass es nicht nur Kriege zwischen diesen Weltreligionen gegeben hat, sondern auch reichlich diplomatischen und kulturellen Austausch und Zusammenarbeit sowie Handelsbeziehungen. Menschen mit muslimischer Religions- und Kulturzugehörigkeit gab es bereits zu Zeiten der K.u.K-Monarchie und sie wandern auch seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nach Europa aus. Damit haben sie seit mehr als einem halben Jahrhundert am Wiederaufbau Europas mitgewirkt. Das Europa, das durch die Ideologie des Nationalsozialismus sich in Trümmerhaufen wiedergefunden hat und in Sehnsucht nach einer Demokratie, in der Menschen nie wieder aufgrund ihrer kulturellen, religiösen oder sonstigen Zugehörigkeiten ausgeschlossen und diskriminiert werden sollten, wurde gemeinsam mit den muslimischen MigrantInnen mit aufgebaut. Europa hat ganz intensive und vor allem asymmetrische Beziehungen zu muslimischen Ländern dieser Welt inne. Wie die diplomatischen Beziehungen zum Osmanischen Imperium und dann der Türkei gewesen sind und weit in die Geschichte hineinreichen und bis heute weiterfortgesetzt werden, kann in Literatur und Zeitung sowie in den Staatsarchiven nachgelesen werden.
Die Frage „Gehört der Islam zu Europa?“ erübrigt sich außerdem, angesichts der Tatsache einer aufgrund kapitalistischer Produktionsweisen zunächst kolonisierten und dann globalisierenden Welt, in der europäische AkteurInnen die TrägerInnen der Kriegsökonomien in diesen muslimischen Ländern sind. Im Gegenzug stellt sich dann nämlich die Frage: „Gehören die europäischen Kriegsökonomien zu Afrika, zum Nahen Osten, zu Asien?“ Wie sieht es mit der Frage zum so genannten „europäischen Kulturimperialismus“ aus, welcher die Welt hegemonial in Einfluss genommen hat? Und wie können und sollen wir zu den ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen, die sich stets zum Vorteil der so genannten „westlichen Konzerne“ entwickeln stehen? Somalia ist z.B. so ein muslimisches Land; Unser Europa macht bilaterale Abkommen mit diesem, um mit großen Fischfabriksschiffen Somalias Meerengen leer zu fischen. Damit rauben wir als Europa nicht nur die Existenzgrundlagen der Familien der lokalen Kleinfischer, sondern haben noch die Anstandslosigkeit uns über die so genannten „Piraten“ aufzuregen, die mit ihren Aktionen die Weltöffentlichkeit auf diese Lage aufmerksam machen möchten. Es gibt unzählige Beispiele, die die europäischen Positionen innerhalb des gesamten Weltsystems ausgiebig in Frage stellen.
Die Polarisierung von Menschengruppen aufgrund ihrer religiösen oder kulturellen Zugehörigkeiten durch PolitikerInnen findet in jedem nationalstaatlich konzipierten Land statt, die auf “ein Land, eine Fahne, eine Sprache, eine Religion” aufbaut. Jene Menschen, die aus Drittstaaten nach Europa kommen, nehmen ihre Kulturen, ihre Werte und ihre politischen Einstellungen mit. Es ist klar, dass diese Zusammenballungen Herausforderungen mit sich bringen, die durch Globalisierung und asymmetrische Macht- und Produktionsverhältnisse erzeugt sind, sodass Menschen in die Emigration gedrängt werden. Wie passt das zusammen, dass unsere EntscheidungsträgerInnen in den Kriegen im Nahen Osten und in den Staaten Afrikas mitmischen und wir uns dann über “ungeregelte Migration” wundern? Wer unter uns glaubt, dass die CO2 Emissionen dann lediglich im Himmel über den Nahen Osten verweilen und wir in Europa nichts davon abbekommen werden? Wer unter uns würde nicht Wege der Flucht und Emigration suchen, wenn wir unter den gleichen Umständen, die systemisch erzeugt werden und die daher außer unseres Einflussbereiches liegen, zu leben gezwungen wären?
Es ist die Aufgabe der Politik konstruktive und lösungsorientierte Optionen zu entwickeln, die den Menschen an sich und nicht dessen konstruierte Identitätsmerkmale in das Zentrum ihrer Handlungen stellt. MuslimInnen, die in Österreich zur Welt gekommen sind einfach „abschieben“ zu wollen und das als eine gute Lösung anzugeben, ist unter jeder Würde eines/-r halbwegs vernünftig denkenden PolitikerIn und sind ihre ca. EURO 9.000.- monatlicher Gehalt wirklich eine Anmaßung, spätestens dann, wenn sich die Frage stellt: „Wie wollen wir dann mit den SympathisantInnen des Nationalsozialismus umgehen?“
Eine demokratische Gesellschaft, die vielfältiger und pluralistischer ist denn je verträgt sich mit keinerlei Extremismen und Radikalismen und eine Kultur zu fördern, in der Menschen sich jenseits ihrer kulturellen und religiösen Zugehörigkeiten in den Fragen zu „gleiche Gesundheit für alle“, „Chancengleichheit und Bildung für alle“, „Arbeit für alle“, „bezahlbares Wohnen für alle“, „Respekt, Anerkennung, Wertschätzung und Fürsorge von allen für alle und füreinander“ zusammenfinden können, ist die Aufgabe einer Politik, die Mensch und Umwelt in den Fokus nimmt und nicht die Interessen der Konzerne, die mittels Spaltung der Gesellschaft ihre eigenen Nutzen durchsetzen. So ist es längst an der Zeit, dass anstelle von Sanktionen von oben, die ohne weitere Bildungs- und Kulturmaßnahmen oft in der Kriminalisierung von Menschen landen, einen Schulunterricht einzuführen, die neben Mathematik und Biologie genau jenes Wissen, das im Leben mehr Einsatz finden kann; wie zum Beispiel Unterricht zum Umgang bzw. Leben mit Diversität (Diversitätsunterreicht; kulturell, sprachlich, religiös, ethnisch, sozial, körperlich, gesundheitlich etc.) oder Unterricht zum Leben im Einklang mit der Umwelt, mit Tier und Natur (Ökologieunterricht; Umweltbewusstsein).
Die Politik, die das Leben und den Menschen in das Zentrum ihres Denkens und Vorhabens nimmt, ist nicht dazu da, Macht auszuüben, sich in billigen und überholten Populismus auszutoben und in Seilschaften zu prostituieren, sondern Menschen permanent Rahmenbedingungen zu schaffen, um ein Zusammenleben in Würde und Gleichberechtigung zu ermöglichen. Insofern ist es die Aufgabe der Menschen, diese Politik stets zur Verantwortung und Rechenschaft zu ziehen, denn die Politik, deren Konsequenzen dann die Menschen tragen müssen, komplett in das Erbarmen von PolitikerInnen zu überlassen, die jeglichen Bezug zu den Alltagsrealitäten von Menschen verloren haben, ist spätestens dem Nachwuchs gegenüber, dem diese Welt dann zurückgelassen werden möchte, unverantwortlich. Eine Politik die glaubt über die Höhe der Mindestsicherung diskutieren zu müssen, sich aber nicht traut steuerliche Maßnahmen für die „Obersten“ in der sozioökonomischen Hierarchie zu thematisieren und aufzuerlegen sowie Optionen der Umverteilung entwickelt, ist nicht vertrauenswürdig, seriös und kann nicht allein gelassen werden. Zum Sicherheitsthema stellt sich somit die Frage: Wer eigentlich soll und kann uns vor den Angriffen dieser Politik schützen, die die Sicherheit unserer existentiellen Voraussetzungen gefährdet? Wir leben seit Jahrzehnten zusammen und alle Fragen, die die kulturellen und religiösen Unterschiede in den Fokus nehmen dienen lediglich zur Stereotypisierung und künstlicher Spaltung, die uns gesellschaftlich segregiert und damit gegenüber einer Politik, die den Zwölf-Stundentag von der Ausnahme zur Regel gesetzlich entschieden sowie die Sozialleistungen gekürzt hat, schwächt.
Es leben 700.000 MuslimInnen in Österreich und das sind Menschen, die in Österreich arbeiten, ihre Kinder zur Schule schicken. Es sind diese Kinder, die in den österreichischen Arbeitsmarkt einsteigen und das Sozialsystem mittragen werden, zumal die “negative” Altersstruktur in Österreich neue Herausforderungen prognostiziert. Nicht selten heißt es, dass es die MigrantInnen gewesen sind und sind, die jene Arbeiten gemacht haben und machen, die von den sogenannten „Einheimischen“ nicht mehr gemacht werden. Ausgerechnet unter der ÖVP-FPÖ Regierung sind viele Menschen aus Drittstaaten gekommen, die dann reichlich im Billiglohnsektor eingesetzt wurden. Wie passt das zusammen, wenn gegen MigrantInnen rassistische Hetze betrieben wird, die Konzerne aber mit Billiglohn-FacharbeiterInnen bedient werden und eigentlich durch diese Politik Lohndumping betrieben wird?
Menschen, die eine Migrationsgeschichte haben und dem islamischen Glauben angehören, sind längst unsere Mitmenschen und KollegInnen in Schulen, unsere NachbarInnen im Wohnumfeld, unsere PflegerInnen in den Krankenhäusern, unsere Vorgesetzte und unsere MitarbeiterInnen am Arbeitsplatz, unsere FreundInnen, unsere ÄrztInnen etc. In den Spielparks spielen die Kinder, die aus den unterschiedlichsten kulturellen sowie sozioökonomischen Haushalten kommen und für sie ist ihre Diversität längst die Normalität. Ihr einzigstes Ziel ist es gemeinsam zu spielen. Und wenn mal jemand unter ihnen aus der Reihe tanzt, kommt auch niemand unter ihnen auf die Idee, diesen vom Park „abzuschieben“. Die Kinder finden andere Wege der Kooperation, während die Erwachsenen sich fragen: Gehört der Islam zu Europa? Diese Frage ist falsch und spielt nur rassistischen Ressentiments in die Hände, zumal der Rassismus mit Undifferenziertheit, Unreflektiertheit, Ignoranz und Anstandslosigkeit zu tun hat, als mit menschlicher Vernunft. Die richtige Frage lautet daher:
Wie gehen wir mit der Herausforderung um, dass Menschen aus den unterschiedlichsten kulturellen, religiösen aber auch sozialen Hintergründen in gemeinsamen Lebensräumen unter gleichberechtigten Bedingungen und in Würde zusammenleben können?
05.08.2019
zeynemarslan.
Fotocredit: STANDARD/Andy Urban