Einer der letzten Transmitter der oralen Tradition des indigenen Dersim… Firik Dede… [1]
Er wurde Zeuge des Dersim Genozids und erfuhr Zeit seiner physischen Existenz auf Erden jenes furchtbare Leid, das Menschen anderen Menschen jemals zufügen können. Als einer der letzten Vertreter der „Derwiş Cemal Ocak Pire”[2] war er außerdem der letzte Vertreter der TransmittorInnen der oralen Tradition des Kızılbaş-AlevitInnentums.[3] Der aus Dersim Ovacık (Armenisch: Pulur) stammende Firik Dede starb[4] im Jahre 2007 im Alter von 106 Jahren.
Sein Leben ist eine Art Kurzfassung der Geschichte von Dersim. Einen wichtigen Teil seines Lebens verbrachte Firik Dede in Armut und stets im Exil. Danach kehrte er zurück nach Dersim. Die Täler, Schluchten und Berge Dersims erinnern alle DersimerInnen noch heute an die Schreie und Hilferufe der 1938 in Blut erstickten Frauen, Männer und Kinder. Firik Dede konnte nicht ahnen, dass er auch sein zweites ’38 wieder in Dersim erleben würde. Er konnte nicht wissen, dass er seine Kinder, die er mit Schweiß und Blut großgezogen hatte, wieder in der „Erde der Derwische“ bestatten würde (zazakische und kurdische AlevitInnen nennen diese Erde Hardo Dewres). 1938 lag einige Zeit zurück, und niemand konnte ahnen, dass die Menschen je noch einmal dermaßen brutal sein könnten…
Der jüngste Sohn namens Behzat studierte an der LehrerInnenschule in der Großstadt und kam in den Tagen der Militärjunta im Jahre 1981 zu Besuch zu seiner Familie in Dersim. Die Generäle der Junta hatten damals alle Dörfer und Regionen Dersims unter Besatzung und Kontrolle genommen. Die Soldaten nahmen zwei Söhne des Firik Dede zu sich mit in den Wald, unter dem Vorwand, dass die Söhne die Militärs in der Region führen sollten. Die Soldaten verbanden indes die Augen des älteren Bruders und folterten den jüngeren, Behzat. Firik Dede machte sich auf die Suche nach seinen Söhnen und bemerkt nach kurzer Zeit den Geruch von verbranntem Fleisch aus dem Wald steigen. Er bewegt sich in Richtung des aufsteigenden Rauchs und hört die Hilferufe seiner Söhne. Er bewegt sich mit größter Kraft nur schwerfällig, ja fast schon auf allen Vieren, im Wald in Richtung des Geschehens: „Piye mi…Behzata mi…“ (Dt. Meine Söhne…mein Behzat). Was er sieht, ist der angezündete Körper des einen Sohnes, während der andere mit Händen, Füßen und Augen an einen Baum gebunden ist. Keine Worte können diesen Schmerz mehr definieren…
Von diesem Zeitpunkt an trauerte Firik Dede um seine beiden Söhne. Er rührte seinen Bart und seine Haare nicht mehr an. Sie kamen nie wieder in Berührung mit einer Schere. Seine Tränen fanden nie wieder ein Ende und kein Wort mehr kam über seine Lippen …
Sein Verstummen ist gleichzeitig ein Raum, in dem Firik Dede unsere Geschichte, die wir seit 1938 verloren haben, einzwängt. Jene Menschen, die seine Kinder ins Feuer warfen, machen zugleich noch einmal deutlich, dass das Feuer in Dersim niemals erloschen ist. Firik Dede schwieg seither. Das Feuer, das den Körper seines Sohnes schluckte, verlosch nie und wurde nie in Worte gefasst …
Nach diesem Erlebnis kam Firik Dede mit verschiedenen Derwischen in Pulur zusammen: Piro Newes, Aydınã Heşi, Qeramanã Mırci und Rızaã Berti. Jene İnsan-ı Kâmil[5] kamen regelmäßig zusammen und verrichteten gemeinsam ihre kızılbaş-alevitischen Glaubensrituale, stets in Begleitung des Tembur[6], und schwiegen zusammen mehrere Stunden lang (Tr. Konuşma Orucu, Dt. Gesprächsfasten). Solche Rituale werden auch in diversen schamanischen sowie buddhistischen und anderen Glaubenssystemen praktiziert. Das Schweigen kann auch folgenderweise verstanden werden: Wir haben viel geredet und es hat nichts geholfen. Lasst uns der Natur unsere Ohren sowie Herzen öffen, und sehen wir, was sie uns zu sagen hat.
Firik Dede ist einer der letzten İnsan-ı Kâmil von Dersim und Vertreter des Ena-El Hak[7] Glaubens. Er ist eine spirituelle Person des “yüzü şems-i kamer” und “gözleri nur”, der ein Leben fern von weltlichen Aspekten und in Einklang mit der Natur führte. Sein Haus bestand lediglich aus einem Bett, einer Kochplatte, seinem Tembur und den vier Wänden.
Es ist wichtig, Firik Dede und seinesgleichen stets in Erinnerung zu behalten und über ihn zu erzählen, denn Menschen wie er sind RepräsentantInnen unserer Geschichte, unserer Herkunft, unserer Abstammung und unserer Vergangenheit. Jene aber, die ihre Vergangenheit verlieren, werden einer orientierungslosen Zukunft entgegenlaufen und sich selbst verlieren. Sie werden die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht definieren können.
Firik Dedes Leben umfasste hundert Jahre in Unterdrückung, Gewalt und Armut. Es umfasste das Schweigen gegenüber einem Leiden, das nicht in Worte gefasst werden kann. Möglicherweise wollte dieses Schweigen uns, die Nachfahren der DersimerInnen, vor neuer Gewalterfahrung beschützen und bewahren. Die Sprache dieses Schweigens war das Zazaki. Jene Sprache, das von dominanten Strukturen stets als inexistent betrachtet wurde und durch die UNESCO im Jahre 2010 als “bedrohte Sprache”[8] kategorisiert wurde.
Firik Dede ging von uns. Sein Gedächtnis war stets ein Geheimnis. Er ging von uns mit seinem langen Bart und diesem seinem Geheimnis. Was er uns zurückließ, sind ein einhundert Jahre langes Leben, die orale Tradition des Kızılbaş-AlevitInnentums, sein Tembur und sein Lied:
Seni sevenlerin can içinde canısın
Du bist das Leben in den Herzen der dich Liebender
Aşıklar katredir, sen ummanısın
Die Liebenden sind die Tropfen, du bist der Ozean.
Gönül bir gemidir sen dümenisin
Das Herz ist ein Schiff, doch du bist das Ruder
Yelken açmak ister bu dervişlerin
Diese Derwische möchten dessen Segel öffnen
Wir haben das Leid von unseren Vorfahren übermittelt bekommen. Sehr lange haben sie geschwiegen, doch dieses Schweigen weckte Fragezeichen in unseren Köpfen und wir fingen an zu fragen. Das Leid, das wir in unseren Herzen trugen, erhielt einen Namen. Die Türen zur Vergangenheit öffneten sich uns, und wir begannen unsere Gegenwart zu verstehen…
Wir sind die Kinder eines Glaubens, der die Liebe in die Herzen der Menschen pflanzen möchte und der durch diese Liebe zur Schöpfungskraft des Universums gekennzeichnet ist. Wir sind die Enkelkinder von Firik Dede. Er war derjenige, der die größte Last auf seinen Schultern tragen musste, und folgende Worte definieren nun auch unser Dasein heute: Ölüm ölür, biy ölmeyiz (Dt. Der Tod stirbt, doch wir nicht).
[1] [Original in Türkisch durch Hüseyin Tunç verfasst; Übersetzung ins Deutsch: Zeynep Arslan].
[2] Jede und jeder Alevi-Kızılbaş gehört einem Ocak an. Besonders die Ost-AlevitInnentümer sind durch ein Ocak-System definiert. Ocak sind Familien, die das Wissen dieses oral tradierten Glaubens innehaben und es transmittieren. Derwisch Dschemal (Tr. Deriş Cemal) ist eines dieser Familien.
[3] Es gibt verschiedene AlevitInnentümer. Die Kızılbaş AlevitInnen sind die Ost-AlevitInnen (Begriff siehe Hans Lukas Kieser 2001). Die Kızılbaş sind jene, die im 15. Jahrhundert gegen das sunnitisch-orthodoxe Osmanische Imperium sich mit den safewidischen HerrscherInnen des Persiens verbündeten. Näheres zum Begriff siehe Arslan 2018.
[4] In den AlevitInnentümern heißt das „Hak’a yürüdü“ (Dt. die materielle Existenz ging zur spirituellen, d.h. zur schöpferischen Existenz zurück; Z.A.).
[5] İnsan-ı Kâmil ist jene Stufen, in der den AlevitInnentümern zufolge die Menschen nach der Bereinigung ihrer Seele zum „vollkommenen Menschen“ werden.
[6] Tembur wird jenes Saiteninstrument genannt, das nur drei Saiten hat, mit den Fingern gespielt wird und mit der die hunderte Jahre alte Liturgie transmittiert wird. Dieser Tembur wird auch Dede Sazı (Dt. Instrument der Dede). Die Dede sind die Nachfahren der Ocak-Familien und jene, die die Liturgie transmittieren. Es gibt auch die weiblichen Nachfahren der Ocak, die die Liturgie transmittieren können. Diese werden Ana (Dt. Die Mutter) genannt. Näheres zur Position der Frauen in den AlevitInnentümern siehe Arslan 2018.
[7] Hallac-ı Mansur war ein persischer Denker und Dichter und er kritisierte jenen Islam, der immer orthodoxer und autoritärer wurde. Er sagte Ena-El Hak, was so viel heißt wie: Ich bin Gott. Damit wurde er der Ketzerei beschuldigt und im 10. Jahrhundert erhängt. Faik Bulut 2018, Ayfer Karakaya-Stump 2018, Gülfer Akkaya 2014 und Arslan 2018 zufolge sind alle oppositionellen Kräfte, die sich gegen diese Form des Islam auflehnten und je nach zeitgeschichtlichem Kontext verschiedene Namen hatten, zuletzt eben Tahtacı, Abdal, Kızılbaş etc. zuletzt ab dem Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Sammelbegriff AlevitInnen zusammengefasst erklärt werden werden.
[8] Siehe dazu: UNESCO Atlas of the World’s Languages in Danger: http://www.unesco.org/languages-atlas/ [26.07.2018].
Veröffentlicht im Wiener Jahrbuch für Kurdische Studien 6 I 2018
Dersim 1938. 80 Jahre Genozid – Vertreibung und die Folgen.
HerausgeberInnennamen des Einzelbandes: Zeynep ARSLAN, Christoph OSZTOVIC, Katharina BRIZIC, Agnes GROND, Thomas SCHMIDINGER, Maria Anna SIX-HOHENBALKEN
Fotocredit: PIRHA